27. Kapitel
Unter Nells flinkem Rühren begann die gezuckerte Butter rasch Spitzen zu werfen. Nell hob den Kopf von der Schüssel und ließ den Blick zum wiederholten Male durch den Raum schweifen. Die einzelne Kerze, die sie aus ihrer Schlafkammer mitgebracht hatte, erleuchtete die Küche nur schwach, aber draußen graute bereits der Morgen. Bald würde es hell sein, und sie würde kein Licht mehr benötigen. Eine so saubere Küche hatte sie noch nie gesehen. Oder ein Anwesen, in dem so viele Räume nur zum Zubereiten von Nahrung vorgesehen waren.
Bei ihrer Suche nach den benötigten Zutaten war Nell in einen Raum geraten, in dem es nur Porzellan-, Glas- und Silberwaren gab. Schließlich hatte sie einen Kühlraum gefunden, in dem es unter anderem Eier und Butter gab. In einer anderen Vorratskammer hatte sie dann Mehl und Nüsse gefunden. Und nun stand sie hier in der Spülküche und rührte, was das Zeug hielt.
Hier war es ganz anders als in den Küchen des Hauses in Bath, in dem sie kurzzeitig als Gouvernante und Lehrerin gearbeitet hatte. Dort war die Küche unsauber, die Wände verdreckt, rußig und schmierig gewesen. Kein Vergleich zu diesen Räumen, die für eine passionierte Köchin wie sie das reinste Paradies waren.
Lächelnd stellte sie die Schüssel ab und griff nach der Handvoll Rosenblüten, die sie zuvor aus dem weitläufigen Garten stibitzt hatte. Genüsslich schnuppernd hielt sie sie an die Nase. Wundervoll. Genau wie Rosen riechen sollten. Nell konnte keinen Hauch Verschmutzung entdecken, obwohl sie bei ihrer Ankunft in dieser riesigen, geschäftigen Stadt über die schmutzige Luft und den Gestank entsetzt gewesen war.
Ganz in ihre Tätigkeit versunken, begann Nell all die Sorgen abzustreifen, die einen guten Nachtschlaf verhindert hatten. Langsam kehrten ihre Gedanken zu den Schurken zurück, denen sie gerade noch entkommen waren, zu Adams kleinem Laden, dem engen Gang, in dem sie Zuflucht fanden. Nell fügte gemahlenen Zimt hinzu. Bei dessen Duft musste sie an Mikhail denken und wie er ihr schelmisch grinsend ein Zimthörnchen stibitzt hatte.
Ihre Gedanken wanderten zu der langen Kutschfahrt mit der enervierenden Lady Denver zurück, ihr endloses Geschwätz, während Nell fast der Kopf zu platzen drohte, weil sie alle paar Minuten in die Zukunft zu schauen versuchte, um sicherzugehen, dass sie nicht direkt in eine Falle liefen. Der Duft von Muskatnuss und Vanille dagegen erinnerte sie an den Kuchen, den sie für den Mittsommertanz gebacken hatte. Sie hatte sich auf dem Weg zum Dorfanger bei Mikhail untergehakt, bei Mikhail, dessen Augen sie keine Sekunde lang losgelassen hatten.
Versunken stand sie im ersten Licht des Tages über ihre Schüssel gebeugt und schlug die Rosenessenz unter den Teig.
»Das riecht himmlisch.«
Nell ließ erschrocken den Kochlöffel fallen und wirbelte herum, um sich dem Eindringling zu stellen.
Als sie Lady Violet in einem wunderschönen weißen Negligé vor sich stehen sah, wäre sie beinahe in Lachen ausgebrochen. Eindringling! Der Einzige, der hier ein Eindringling war, war sie selbst!
»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Und zu Nells größtem Erstaunen bückte sich die Lady, hob den Kochlöffel vom Boden auf und ging damit zu einem der beiden Waschbecken.
»O bitte, Lady Bruce, kümmern Sie sich doch nicht darum, ich wollte sowieso sauber machen!«, flehte Nell erschrocken. Sie stellte ihre Schüssel hin und wollte der Lady den Löffel wegnehmen, doch diese kehrte ihr kurzerhand den Rücken zu und begann das Rührinstrument zu reinigen.
»So ein Unsinn, Nell! Ich darf Sie doch Nell nennen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich habe fast mein ganzes Leben lang selbst sauber gemacht, da wird mich ein Kochlöffel schon nicht umbringen.«
»Ach.«
Etwas Intelligenteres fiel Nell beim besten Willen nicht ein, aber das war schließlich auch kein Wunder. Was hatte eine feine Dame in der Spülküche zu suchen, eine Dame, die obendrein behauptete, ihr Leben lang ihr Geschirr selbst abgewaschen zu haben? Aber das war nicht der wahre Grund für Nells Nervosität. Sie hoffte inständig, dass Lady Violet den gestrigen Vorfall nicht erwähnen würde. Nell war nach der Sache mit der Vase geflohen wie ein Hase. Und war erleichtert gewesen, als sie feststellte, dass man ihr nicht folgte. Verlegen war sie in einem Winkel der Eingangshalle stehen geblieben, bis eine Haushälterin auftauchte und ihr erklärte, die Hausherrin habe sie gebeten, sie auf eins der Gästezimmer zu führen.
Nell war ein Stein vom Herzen gefallen. Mehr als das, sie war überglücklich gewesen. Man wollte sie also nicht aus dem Haus werfen. Zumindest noch nicht. Dennoch hatte sie während der Nacht kein Auge zugetan. Die halbe Zeit hatte sie am Fenster verbracht und nach draußen gestarrt, immer wieder in die Zukunft schauend, um sicherzugehen, dass nicht noch mehr Mörder auftauchten.
»Ich kann mich nicht erinnern, wann mich zum letzten Mal ein so köstlicher Duft geweckt hat«, unterbrach Lady Violet das eingetretene Schweigen.
»Ach?« Junge, Junge, sie war aber heute besonders eloquent!
»Ja, es riecht einfach herrlich. Die Rosen habe ich natürlich sofort gerochen, aber als Sie sie mit diesem braunen Zucker und Zimt und Muskatnuss vermischten ... hmm! Himmlisch. Wo haben Sie so gut backen gelernt?«
Eine Unterhaltung übers Backen hatte Nell nicht erwartet, doch sie antwortete bereitwillig. »Von meiner Mutter.«
»Tatsächlich? Es ist nur, ich habe noch nie erlebt, dass jemand Rosen zum Backen oder Kochen verwendet. Das heißt, einmal schon. Als mein Vater mich Lokum kosten ließ, ein türkisches Dessert, das aus Rosenwasser, Pistazien und Haselnüssen hergestellt wird. Einfach göttlich.«
Als Nell merkte, wie unbekümmert sich Lady Violet mit ihr unterhielt und wie viel Freude sie an süßen Sachen hatte, entspannte sie sich ein wenig. »Das klingt wirklich köstlich.«
»O ja! Aber als ich es damals probierte, wusste ich sofort, dass wir es hier nicht herstellen können«, erklärte Violet sehnsüchtig.
»Wieso denn nicht? Wenn man das Rezept kennt?«
Die Lady schüttelte den Kopf. »Nein, denn wissen Sie, als ich Lokum probierte, merkte ich sofort, dass das Geheimnis nicht im Rezept, sondern in den Zutaten lag. Die Milch stammte von einer Kuh, die in einem sonnenbeschienenen Tal mit blühenden Mohnblumen weidete, der Weizen hatte die besondere Würze der türkischen Erde in sich aufgenommen, und die Pistazien schmeckten nach den Wüsten Persiens. Whisky entfaltet doch auch nur dann den richtigen Geschmack, wenn bei seiner Herstellung Wasser aus den schottischen Highlands verwendet wurde. Und genauso verhält es sich mit Lokum, es ist untrennbar mit dem türkischen Land verbunden.«
Nell blinzelte verwirrt. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie all das herausgerochen haben, als Sie dieses Dessert aßen?«
Violet strich sich lächelnd das lange, rabenschwarze Haar zurück. Dann beugte sie sich vor und schloss die Augen. Fasziniert beobachtete Nell, wie ihre feinen Nasenflügel bebten. Die exotische Frau schlug ihre großen grünen Augen auf und blickte Nell direkt an.
»Sie haben auf dem Weg hierher große Ängste ausgestanden, stimmt's? Und Sie haben seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen, Sie Arme. Und dieses Fischbrötchen ... Stammte das von Lady Denver? Ich dachte, ich hätte es gestern Nachmittag an ihr gerochen, kurz bevor sie ging.«
»Woher wissen Sie das? Es stimmt, sie hat kurz nach unserer Abreise ein Fischbrötchen in der Kutsche verzehrt. Aber das war schon vor zwei Tagen! Sie können das unmöglich jetzt noch riechen!« Nell starrte ihr Gegenüber mit großen Augen an.
»Der Geruch haftet Ihrem Kleid an.«
Nell lachte, sie konnte nicht anders. Das war unmöglich! »Sie können den Geruch eines Brötchens an meinem Kleid riechen, das jemand anders vor zwei Tagen in meiner Gegenwart verzehrt hat?«
»Ja«, antwortete Violet ernst. »Ich kann Dinge aus meilenweiter Entfernung riechen, auch lange nachdem die Quelle des Geruchs gekommen und wieder gegangen ist. Und Sie, meine liebe Nell, können in die Zukunft schauen.«
Nell blieb das Lachen im Halse stecken. War es möglich?
»Ich wollte, dass Sie das über mich erfahren, Nell. Ich finde es nur fair, nachdem wir Sie gestern Abend zwangen, uns Ihr Geheimnis preiszugeben. Das kann nicht leicht für Sie gewesen sein.« Violet schnupperte genüsslich. »Wäre es möglich, dass ich ein Stück davon bekomme, wenn es fertig ist?«
Nell war ihr dankbar für den Themenwechsel. Lady Violet war eine höchst ungewöhnliche Frau, so viel stand fest. Und eine verwandte Seele, so seltsam ihr das auch erschien. Ach, bei den Mätressen des französischen Königs, wie hatte sie es bloß in diese Küche verschlagen, wo sie diese mehr als seltsame Unterhaltung mit dieser wunderschönen exotischen Frau führte?
»Na ... natürlich«, stammelte Nell. Doch dann gab sie sich einen Ruck; schließlich war sie sonst auch nicht so schüchtern. Nell stellte die Frage, die sie am meisten plagte: »Wer sind die Männer, die den Kindern etwas Böses antun wollen?«
Violet verzog das Gesicht. Dann befeuchtete sie Zeigefinger- und Daumenspitze und löschte Nells Kerze. Es war mittlerweile hell geworden, und die Morgensonne schien durch die großen Fenster über der Spüle herein. Auch kündigten zahlreiche Geräusche das Erwachen des Hauspersonals an.
»Ich weiß nicht, wer sie sind, ich weiß nur, dass sie Übles im Sinn hatten. Aber das ist vorbei.«
»Ja, hat man sie denn erwischt? Alle?«
Die Lady nickte langsam. »Ja. Mein Mann hat eine von ihnen zum Reden gebracht, und sie hat die Namen ihrer Mitverschwörer verraten. Sie wurden alle festgenommen. Die, von denen Sie und Mikhail verfolgt wurden, waren offenbar die Letzten.«
»Aber das ist ja großartig!«
»Ja«, lächelte Violet, doch ihre Miene verriet Besorgnis.
»Da ist noch was?«, fragte Nell.
»Nein. Doch. Ach, ich weiß nicht. Patrick hält mich für paranoid, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es noch nicht vorbei ist. Und ich bin nicht die Einzige; Angelica geht es ebenso.«
Zu Nells Überraschung ergriff die Lady ihre Hände.
»Mikhails Brief war zwar nur vage, aber er hat uns immerhin mitgeteilt, dass Sie ihm bei der Sorge um die Kinder behilflich waren, dass Sie ihnen ein Versteck boten. Nell, ich weiß, Sie haben bereits mehr für unsere Familie getan, als sich je entgelten lässt, dennoch möchten sowohl Angelica als auch ich Sie bitten, noch ein Weilchen bei uns zu bleiben. Es würde uns immens beruhigen, wenn Sie ... nun, wenn Sie ein Auge auf die Kinder haben könnten.«
Nell wusste, was Lady Violet meinte: ein Auge auf die Zukunft der Kinder. Aber das störte sie nicht.
»Ich habe die Kinder sehr lieb gewonnen, Lady Violet. Ich bleibe sehr gerne.«
Abermals wurde Nell von der Lady überrascht, diesmal mit einer Umarmung. Nell fühlte sich eigenartig getröstet. Ihre neue Freundin verzog die Nase, als sie sie wieder losließ. »Wir sollten besser Angelica wecken. Lady Denver wird bald über uns hereinbrechen. Ich weiß wirklich nicht, was Mikhail an ihr findet.«
Nell hatte plötzlich das Gefühl, ein eisiger Wind würde über sie hinwegstreichen, und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Was meinen Sie damit?«
»Mikhail und Caroline - Lady Denver. Sie waren vor einiger Zeit unzertrennlich. Und wenn es stimmt, was sie behauptet, dann dürfte es bald ernst zwischen ihnen werden.«
»Ach.« Nell war mal wieder die Sprache abhandengekommen, diesmal jedoch aufgrund ihres wild klopfenden Herzens.
»Nicht dass es mich nicht freute, wenn er endlich heiraten würde, aber - Caroline? Sie sieht gut aus, natürlich .« Lady Violet hatte noch mehr zu sagen, aber Nell hörte nicht länger hin. Wie betäubt folgte sie ihr und fragte sich dabei, wann- der Schmerz in ihrer Brust wohl wieder aufhören würde.